Zehn Jahre Brecht-Grundschule - eine persönliche Gratulation von Marina Friedt. Nur zwanzig Kinder pro Klasse, ab der ersten Klasse Englisch, Ganztags-Grundschule und keine fünf Minuten zu Fuß zur Schule und in der 8. Klasse sechswöchiger Schülerautausch nach Neuseeland. Das Angebot der privaten Brecht-Schule Anfang 2005 war eine echte Offenbarung für mich. So etwas hatten wir in den jahrelangen Debatten im Dorf St. Georg für die Heinrich-Wolgast-Schule (HWS) nicht geschafft! Und auch in jenem Jahr war nicht klar, ob die Ganztagsschule kommt - sie kam nie. Wir meldeten unseren Sohn zur Brecht-Schule an, auch wenn ich dafür im Stadtteil vielfach als Verräterin eines gemeinschaftlichen Schulsystems kritisiert wurde.
"Schlaue Mädchen, dumme Jungs" titelte der Spiegel im Mai 2004 und ich machte mir Gedanken über die Schulfähigkeit unseres "wilden Kerls". Verwöhnt von der großartigen Betreuung der Kita "Koppelkinder" machte mich das Angebot der "öffentlich-rechtlichen Alternative", wie ich die HWS fortan nannte, nicht zufrieden: Dreißig Kinder pro Klasse und ab der ersten Klasse bilingualen Unterricht. Deutsch-Türkisch hatten die Eltern durchgesetzt. Passt zum Stadtteil, aber passt es zu uns, zu unserer Familie? Zugegeben eine weitere Sprache finde ich klasse, aber muss es Türkisch sein? Merhaba, das funktioniert im direkten Umfeld, aber bringt es unseren Sohn im Leben, in unserem Familienumfeld weiter? Seine Patentante ist Neuseeländerin und sein Patenonkel ist Fijianer – und die sprechen vor allem englisch! Die Einschulung unseres Sohnes Lasse stand im Sommer 2005 an. Im Frühjahr nutzten wir unsere zerrinnende Schulfreiheit zum Reisen. Fünf Wochen Neuseeland und bei seiner Patentante in Auckland. Reisen bildet. Begegnungen, das ist das, was einen Menschen prägt und später ausmacht. Eine glückliche Kindheit mit Spaß an der Schule, Zeit und Muße zum lebenslangen Lernen - das war immer meine feste Überzeugung, von der ich zum Glück auch seinen Vater überzeugen konnte.
Zu Fuß zur Schule. Sein Vater und ich hatten uns getrennt, als Lasse zweieinhalb Jahre alt war. Mein Mann war aus St. Georg weg gezogen, ins ruhige Niendorf, und fuhr den Jungen morgens und abends eine halbe bis ganze Stunde durch die Stadt in die für mich nahegelegene Kita. Wir schoben mit der Joggerkarre, dem Skateboard oder auf dem Fahrrad die maximal zehn Minuten zum Lohmühlenpark. Das war meine Vorstellung von Lebenswelt und auch, dass wir - beide voll berufstätig - Lasse fifty-fifty erzogen. Als er noch klein war, war er mehr Tage bei mir, aber mit dem Schulbeginn wollten wir in den wöchentlichen Rhythmus wechseln - immer montags und nicht wie viele Familien mitten in der Woche oder freitags. Auch das haben wir für uns passend kreiert. Für uns drei hatte das neben der guten Planbarkeit der Wochen, den Vorteil, dass nach einer anstrengenden Schulwoche das Wochenende zum Entspannen und zur Aussprache von eventuellen Unpässlichkeiten diente.
Schule im Brennpunkt. In meinen Mails aus der damaligen Zeit argumentierte ich also für eine Schule im Stadtteil, der kurzen Wege wegen, - anfangs - mangels einer Alternative - für die HWS. Zudem hätte eine reine Grundschule in meiner Vorstellung auch einer Insel der beschützten Seeligkeit entsprochen – ohne die Aggressionen der Älteren. Doch dazu gehörte auch: Eine kleine Klassengröße - damit der Junge nicht hinten runter fällt. Zu sehr hatte ich meinen kleinen Bruder vor Augen, der schon in den 70er Jahren viel Pech mit einem Schulsystem hatte, das nicht auf den Bewegungsdrang von Kindern, sondern auf brav sitzende Schülerinnen und Schüler eingestellt war – und vielerorts auch noch ist. Leider. Zumal gerade in Stadtteilen wie St. Georg ein bunter Mix aus allen möglichen sozialen Bereichen die erste Klasse bevölkert und insbesondere die Grundschullehrer fordert – und schon in der Kitazeit hatte ich vielfach Erfahrung mit "elternbehinderten Kindern" gemacht, die nicht sprechen konnten. In jenem Jahr der bevorstehenden Einschulung bekamen wir einen Brief von der Schulbehörde und eine Einladung zum Informationsgespräch in der HWS. Der neu gestaltete Pausenhof machte Mut, aber in diesem Jahr sollten 31 Kinder eine der beiden 1. Klassen besuchen. Und die weiterführenden Schulklassen am Standort am Carl-von-Ossietzky-Platz, die Haupt- und Realschule (HR), machten den Standort oftmals zum Brennpunkt – der Streitschlichter wurde erfunden und Dialog gepredigt.
Normalbegabte Integrationskinder. Die Stadt Hamburg setzte zunehmend vielfältig auf Dialog, warb für Aktionen wie "zu Fuß zur Schule", unterstützte die "Autofreie Lange Reihe" und Tempo 30 (s. Bilder aus der damaligen Zeit) und ich machte mit – für und in unserem Stadtteil. Noch näher als die "öffentlich-rechtliche HWS", keine fünf Minuten Fußweg entfernt, sollte die private Brecht-Grundschule in der Norderstraße starten. In dem wunderbar klassizistischen Volkhochschul-Gebäude, wo bis vor einiger Zeit noch die Gehörlosen-Schule untergebracht war. Mit zwanzig Kindern pro Klasse, davon etwa die Hälfte (vermutet) hochbegabt - im jungen Alter gibt es noch keine verlässlichen IQ-Tests - und die andere Hälfte normalsterblich, oder wie ich immer betone: Integrationskinder. Denn die Hochbegabten benötigen mehr soziale Betreuung durch eine Gruppe als so mancher vermutet...
Die Gründung der Brecht-Schulen. Wer bei Brecht an Brecht denkt, ist nur halb richtig. Denn die Brecht-Schulen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von dem Pädagogen Heinrich Brecht gegründet. Nach der totalen Verstaatlichung des Schulwesens im Dritten Reich, gehörte Brecht 1945 zu den ersten Begründern einer privaten Schule in Hamburg. Seitdem hat die Schule eine anerkannte qualitative Entwicklung sowie einen enormen Aufschwung erfahren. Zurzeit besuchen insgesamt etwa 1.300 SchülerInnen die Schule. Die Brecht-Schule ist bis zur 10. Klasse eine Ganztagsschule. Ihr Markenzeichen ist die individuelle Förderung aller SchülerInnen, ihre besondere Stärke laut Umfragen das Wohlfühlklima. Ja, zur Qualitätssicherung wurden wir Eltern alljährlich aufgerufen, die Schule zu beurteilen und Verbesserungsvorschläge einzubringen. Zudem haben wir den Direktor Klaus Nemitz immer so erlebt: bei offener Tür arbeitend, stets ein offenes Ohr für die Schülerschaft, das Kollegium und uns, die Eltern.
Motivation ist alles. Neben der Klassentür der 1 b platzierte Klassenlehrerin und Grundschulleiterin Anja Messerschmidt einen Spruch, der alles sagt: "Grundüberzeugung: Fast jedes Kind kommt neugierig und lernwillig in die Schule. Wenn man es richtig anregt und anleitet, wird es – den eigenen Interessen folgend und dem eigenen Entwicklungstempo gemäß – den notwenigen Lernstoff von selbst erarbeiten". Und auch wir Eltern lernten in der 1. Klasse Wunderbares: Nicht nur, dass unsere Kinder hier mit ihren Stärken und Schwächen im Mittelpunkt standen. Sondern auch, dass sie nicht mit Frontalunterricht gelangweilt wurden, stattdessen durch Freiarbeit und Werkstattstationen motiviert wurden. Erlebnisse, Probleme und Planungen wurden im Morgenkreis behandelt - bald auch von den Kindern selber moderiert. Damals - wie heute - tobten immer wieder angedachte Schulreformen durch Hamburg, begannen die Debatten um Stadtteilschulen, um die sechsjährige Primarschule und um das Turbo-G8-Abi. Wir Eltern wollten doch nur das Beste für unser Kind. Und das bekamen wir bei Brecht. Großen Respekt ernteten der Direktor und sein Team auch bei praktischen Entscheidungen: So wurde zum Beispiel beim geplanten Neubau mit einer innovativen Glasfassade - so innovativ, dass die Scheiben noch nicht verfügbar waren, aber die potenziellen Gelder in Aussicht gestellt wurden - pragmatisch zugunsten der Lehrer-Gehälter entschieden. Die Gelder des Bundes für die Energiesparmaßnahme wirkten zwar verlockend, aber was haben Kinder von einer luxuriösen, innovativen Umgebung, wenn die Lehrkräfte unterbezahlt und schlecht gelaunt, unmotiviert sind? Die Gegenentwürfe zu dieser Haltung blicken uns ins Form von großkotzig gestalteten Gebäuden überall in Hamburg seelenlos ins Gesicht.
(K)eine Lobhudelei. Im Großen und Ganzen hat unser Sohn vielleicht einfach Glück gehabt. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Erst mit seiner wundervoll engagierten Lehrerin Anja Messerschmidt und später auf der Stadtteilschule war Frau Trumpf unser aller Trumpf! Sie kommunizierte auch per WhatsApp mit den Kids. Aus einer verschrieenen S7 – ja auch das gibt’s auch auf Privatschulen – hat sie einen wunderbaren Haufen junger Menschen kreiert, die sich zugewandt gegenüber stehen und sich am 13. Juli mit Rosen in den Händen und so mancher Träne in den Augen voneinander verabschiedeten. Unser Sohn, der als einziger von Beginn an auf der Brecht-Grundschule dabei war, wählte den Stadtteilschulzweig – macht also kein Turbo-G8-Abi. Derzeit absolviert er seine 11. Klasse als Auslandsjahr, um Spanisch zu lernen. Bis er wiederkommt, ist er beurlaubt – auch das ist typisch Brecht. Apropos Privatschule: Die etwa 220 Euro Schulgeld – fifty-fifty für mich also 110 Euro – hätte ich auch für eine nachmittägliche Hort-Betreuung bei der HWS zahlen müssen. Daher mein Credo: Jede Familie muss ihre eigene Kindgerechtigkeit kreieren, finden und leben und ich kann nach all den Erfahrungen und Debatten, die ich im vergangenen Jahrzehnt in Hamburg erlebt habe, nur jedem Kind eine so anspruchsvolle Förderung wie bei Brecht wünschen.
Zu den Bildmotiven:
Einschulung 2005: wir Eltern sind unten rechts im Bild, mit Lasses Großeltern
Startseite Brecht-Schule: Unser Sohn ist der dritte von links – wird ihm peinlich sein, sorry Lasse!
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Die Brecht-Schulen: Altbau und Neubau
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